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Ein Kommentar

„Ein Leben in der Fülle“ – möglich oder nur dummes Geschwätz?

Wir sitzen auf Meditationskissen im Kreis und brain-stormen. Wie soll unser Baby heißen? Es wird ein 5-Tage Intensivseminar in Gewaltfreier Kommunikation. „Leben im Flow“? – nicht unser Thema; „Achtsames Sprechen“ – zu speziell; „Ein Leben in Fülle“? – Das passt. Meine Kolleginnen sind begeistert. Ich nicht: Fülle, was soll das? So wie im Supermarkt, wenn man sich fragt, warum man eigentlich zwei auf vier Meter Regalwand für 50 Variationen von Kartoffelchips braucht? „In die Fülle kommen“, ist das nicht so ein esoterisches Gerede von „es ist genug für alle da“? Schau dich doch um, es ist nicht genug! Im letzten Jahr hat jede von uns 180 Euro verdient, nennt man das Fülle? Ich lasse mich um des lieben Friedens willen auf den Namen ein.

Ende September, das Seminar beginnt, und ich bin nervös. Doch dazu gibt es keinen Grund. Die Teilnehmer sind begeistert, die Gruppe wächst zusammen, die Themen werden persönlicher. Mehr als einmal gelingt es uns, viele verschiedene scheinbar widersprüchliche Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Auch mit dem Geld ist es dieses Jahr besser. Wir haben mehr Anmeldungen. Wir wollen etwas Neues ausprobieren. Fülle nicht nur für die Teilnehmer, Fülle auch für uns Trainerinnen. Dazu gehört eine ungewöhnliche Aktion. Inken Gritto, eine Kollegin, bittet die Workshopteilnehmer um Geld. „Hier ist eine rosa Box, die wird hier bis zum Ende des Seminars stehen. Wer uns bei der Erfüllung unseres Bedürfnisses, uns selbst und unsere Familien zu versorgen, unterstützen will, kann hier Geld hineinlegen. Die Summe soll für euch stimmen, es besteht kein Zwang zu geben. Nur die Bitte, es von Herzen zu tun.“

Ich bin schwer beeindruckt von ihrem Mut. Und ich glaube nicht daran. Mehr als 25 Euro kann ich mir nicht vorstellen. Die haben schließlich alle eine Teilnahmegebühr bezahlt!

Wir finden 1.470 Euro und zahlreiche Liebes- und Dankesbriefe, die die Geldspenden noch schöner machen. Ich kann es kaum glauben.

Das Seminar ist vorbei. Der Herbst hat Hamburg eingeholt und der Termin der Geldverteilung rückt näher. Ich bin mal wieder nervös und im Widerstand. Das Geld soll nach dem Prinzip des „Geldstapels“ (Money-Pile nach Dominic Barter) verteilt werden. D.h. wer Geld braucht, soll Geld bekommen. Klingt revolutionär. Klingt wie „Leben in Fülle“ live. Aber es liegt wieder außerhalb meiner Vorstellung. Im Geiste schimpfe ich vor mich hin: Bedürfnisorientiert?!?  Wer am besten jammert, bekommt am meisten Geld. Was ist mit Wertschätzung für gute Arbeit?

Der Verteilungsprozess

Man legt das Geld (am besten in bar) in die Mitte und alle, die davon etwas abhaben wollen, sitzen darum herum. (Schon einmal mehrere 1000 Euro auf einem Haufen gesehen?)

In der ersten Runde muss jeder einen Zug machen. D.h. entweder sich selbst Geld geben und erklären, welches Bedürfnis er sich damit erfüllt oder anderen Geld geben und wiederum erklären, welches Bedürfnis er sich damit erfüllt. Nichts ist festgeschrieben, Geld kann gegeben und genommen werden. Danach werden nur noch die aktiv, die mit der bisherigen Geldverteilung (noch) nicht zufrieden sind.

Das Ganze geht so lange, bis keiner mehr einen Änderungsimpuls hat.

Wir sitzen um das Bargeld, und Inken zerstreut meine Zweifel. Jedes Bedürfnis ist willkommen, natürlich auch Wertschätzung, aber auch Unterstützung, Empathie, egal. Es geht los. Unsere Kollegin für die Organisation nimmt sich das Geld, gibt sich einen kleinen Teil und verteilt den Rest zu gleichen Teilen an uns Trainerinnen. Puh, das fühlt sich erst einmal sicher an. Keine wird benachteiligt. Außer vielleicht sie selbst? Doch dabei bleibt es nicht. Schon die nächste Trainerin gibt ihr deutlich mehr und verteilt um. Jetzt ist es nicht mehr gleich.

Ich habe diesen Prozess schon einmal im GFK-Verein mitgemacht. Und ich war erstaunt, wie viel Freude mir das Geben bereitet. „Schatz, komm her, ich weiß, du brauchst Geld! Hier hast du 300 Euro.“ Ich selbst knapse seit Jahren mit dem Geld und damals konnte ich schenken. Ein grandioses Gefühl!

Aber in der ersten Runde der Geldverteilung sitze ich vor meinem gerechten Anteil und die Geberfreude will sich nicht einstellen. Misstrauisch beäuge ich jede Bewegungen. Greift jemand nach meinem Stapel, möchte ich protestieren. Doch mit der Zeit wird er größer. Irgendwann ist er so groß, dass ich geben könnte. Es fühlt sich aber noch zu grenzig an. Noch ein Zug und vor mir liegt viel Geld. Ich komme in Geberlaune. Ich greife mir ein paar Scheine, da wird mir bewusst, dass ich nicht so viel habe, wie ich geben möchte. Ok, dann kleine Brötchen backen. Mann, ist das aufregend! Welche Bedürfnisse erfülle ich mir damit? Wertschätzung ganz klar. Zeigen, dass sie mir wichtig ist, genau. Irgendwann kommt der Prozess zur Ruhe. Ok, das ist es. Jede hat einen komplett anderen Betrag vor sich liegen und alle sind zufrieden. Ich brauche wohl nicht erwähnen, dass ich das kaum glauben kann.

Ich habe viel Geld bekommen. Und es bedeutet mir viel. Es ist die materialisierte Wertschätzung und Unterstützung von Kollegen und Teilnehmern. Und ich habe an meiner eigenen Haut erfahren, was es bedeutet, nicht geben zu können, weil es für einen selbst nicht reicht. Und genau wegen dieser Erfahrung bin ich nicht nur den Teilnehmern dankbar, die mir mit ihrem Geld ein Gefühl von Reichtum ermöglicht haben, ich bin auch denen dankbar, die nichts gegeben haben und damit ihre eigenen Grenzen gewahrt haben.

Das war es von mir.

Und du? Kommst du in den Genuss, mit Freude zu geben? Hast du, was du brauchst? Sagst du, wenn du was brauchst? Beides wichtig, beides wertvoll!

Ein Leben in Fülle heißt nicht, nichts zu brauchen. Ein Leben in Fülle heißt, das zu teilen, was wir gemeinsam haben. Das Teilen macht uns reich!

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Große Ziele und das Scheitern

Um sich im Scheitern wertzuschätzen, dafür muss man schon genauer hinschauen. Dieser Text hat mir geholfen.

„Es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist oder wo der, der Taten gesetzt hat, sie hätte bessermachen können. Die Anerkennung gehört dem, der wirklich in der Arena ist; dessen Gesicht verschmiert ist von Staub und Schweiß und Blut; der sich tapfer bemüht; der irrt und wieder und wieder scheitert; der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe, und sich an einer würdigen Sache verausgabt; der im besten Fall, am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt; und der, im schlechtesten Fall des Scheiterns, zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat …“

Theodore Roosevelt, Rede „Der Mann in der Arena“, gehalten an der Sorbonne 1910

Zitiert aus „Verletzlichkeit macht stark“ von Brené Brown

Das Zitat berührt mich, weil es nicht nur den Erfolgreichen würdigt, sondern all die, die, „es“ versucht haben. Ich finde es so schwer, mein „Gewagt-haben“ zu würdigen, den Wert im Scheitern zu sehen, einfach weil es der Versuch wert war. Ich muss an meinen Vater denken, der hart mit sich ins Gericht ging, wenn er nicht erfolgreich war. Als Fotograf nicht, als Autor nicht. Lehrer zählte nicht. Seine Versuche waren für ihn nichts wert, weil der Erfolg ausblieb. Ich habe diese Haltung übernommen. Ich konnte lange nur dem Wert in meinem Leben geben, was nach „Erfolg“ aussah, und das war nicht viel. Und dieses Zitat verweist auf etwas, was ich übersehen habe. Den Mut „es zu wagen“. Ein Buch zu schreiben. Ein Bild zu veröffentlichen. Sich mit seinem Traumberuf selbstständig machen. Wie viele Menschen haben das NIE getan? Wie viele Menschen sind NIE gescheit, weil sie es gar nicht versucht haben? Warum beneide ich diese Menschen so? Weil sie die Scham nicht kennen, gescheitert zu sein? Sie kennen auch das Gefühl nicht, die eigenen Träume zu leben. Recht haben sie, denn das macht süchtig!

Danke Roosevelt, dass du an den Wert, Großes zu wagen, erinnerst!


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Kann man durch Träumen sein Leben verändern?

Manche Workshops versprechen das, aber ich habe meine Zweifel. Ich tagträume viel und manchmal fast den ganzen Tag. Aber dass sich dadurch mein Leben verändert hätte, konnte ich noch nicht feststellen. Auch mache ich mir manchmal Sorgen, dass ich mein wirkliches Leben verpasse.

Doch kann ich das wirklich sagen? Verändert sich wirklich nichts? Hier mein Versuch einer objektiven Überprüfung:

Tatsächlich hat mein Leben wenige Elemente, die man sich normalerweise wünscht. Ich habe kein Haus, keine Familie, keinen festen und geradlinigen Werdegang, aber all das habe ich mir auch nie erträumt! Stattdessen träume ich von spannenden neuen Projekten, einer intensiven Beziehung, die dennoch noch Raum für eigenes und Abenteuer lässt und vielem mehr. Das passt im weiteren Sinnen zu meinem Leben. Die letzten Jahre habe ich damit verbracht, meine beruflichen Träume umzusetzen und den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt. Auch habe ich versucht eine Beziehung zu leben, die nicht den Konventionen entspricht. Vielleicht hätte mir all das gelingen müssen, um zu behaupten, dass Träume die Wirklichkeit verändern. Nach meinem Dafürhalten ist es mir aber nicht gelungen. In Träumen gelingt alles – in Wirklichkeit vielleicht 10%, wie will man da wissen, ob es wirkt?

Zu langes und intensives Träumen halte ich für eher hinderlich. Es ist zwar erholsam, aber gleichzeitig erzeuge ich haushohe Erwartungen. Ich brauche die Rückkopplung mit der Welt, um mein Leben tatsächlich zu verändern. Ich muss austesten, was passiert, wenn ich das oder jenes mache. Mache ich diesen Check nicht und träume ich stattdessen weiter, dann wird die Diskrepanz zwischen innen und außen immer größer und die Chance meine Träume zu verwirklichen, immer geringer.

Workshops der Art von „Träume dir dein Leben“ sind wahrscheinlich für Realisten, die nicht träumen. Für Menschen, die so in der Wirklichkeit verankert sind, dass sie nur diese sehen können und nichts darüber hinaus. Für Menschen, die beim Phantasieren schnell sagen: „ Alles Hirngespinste, das kann man sowieso nicht umsetzen.“ und sich dann wundern, dass ihr Leben so wenig eigene Elemente enthält. Denen möchte ich als routinierte Träumerin den Hinweis geben, dass es nicht ums Umsetzen geht. Es geht um die Freude an der Vorstellungskraft: „Wie könnte mein Leben sein, wenn…?“ „Wie wäre ich, wenn…?“ „Wie wäre meine Arbeit?“ „Wie wäre meine Beziehung?“ Es geht nicht um die Machbarkeit, sondern um das reine Vergnügen am Wünschen.

Diese Beschreibung versöhnt mich gerade mit meiner Träumerei.

Würde ich nur in der Realität leben wollen?

Nein, auf keinen Fall. Ich würde so viel verpassen! Ich verzichte seit Jahren auf Fernsehen, weil meine „Sendungen“ einfach besser sind.